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Auf die leisen Töne kommt es an

Ein Gespräch mit Fredrik Vahle

Seit mehr als 45 Jahren begeistert Kinderliedermacher und Buchautor Fredrik Vahle sein Publikum. Sobald der 77-Jährige seine eigenen Kinderlieder darbietet, wird es still im Saal und mehrere hundert Kinder lauschen gebannt seinen Worten und Klängen. Vahle studierte Germanistik und Politologie und promovierte in Soziolinguistik. Seine Habilitation widmete er der Kindersprache und dem Kinderlied und er lehrt bis heute Sprachwissenschaften an der Universität Gießen. In seiner jüngsten CD „Lilo Lausch liebt leise Lieder“ widmet er sich dem Zuhören und Lauschen und zeigt die Wunder von Tönen, Sprachen und kulturellen Einflüssen im Alltag.

Marie Ortsiefer: Sie sagen “Hören, Horchen und Lauschen muss man Kindern nicht beibringen, das können Sie von alleine. Doch es lohnt sich, Sie immer wieder darauf aufmerksam zu machen.” Wie lassen sich Kinder für das Zuhören begeistern?

Fredrik Vahle: Das ist eine große Frage. Das Hören und Horchen beginnt ja schon in der vorgeburtlichen Phase. Das Kind ist noch gar nicht auf der Welt, da fängt es schon an zu hören und zu horchen. Das ist auch immer mit ganz elementaren Berührungsvorgängen verbunden und spielt bei den späteren Hör-Erlebnissen ebenfalls eine Rolle. Das heißt, wenn das Kind später anfängt aktiv zu hören, wird es immer auch von diesen Tönen und Liedern berührt. Das ist etwas ganz Wichtiges. Deswegen geht uns das Hören in gewisser Weise unter die Haut. In diesem Bild “unter die Haut gehen” steckt schon das Besondere des Hörens und Horchens. Das sind immer auch sehr tiefe und innige Vorgänge, die einem aber, wenn Sie fehlgeleitet werden, auch fürchterlich auf den Wecker gehen können. Man kann nicht nur das Hohelied des Hörens singen, sondern man muss auch sagen, dass es ausgenutzt werden kann, so dass uns Hören und Sehen vergeht, wenn wir einfach zu viel hören. Und gerade beim intensiven Horchen in die Stille – und dazu haben wir ja jetzt in besonderer Weise die Möglichkeit – da spielt das Hören und Horchen auf bestimmte Geräusche wieder eine Rolle, zum Beispiel auf das Singen der Vögel.

Marie Ortsiefer: Unendlich viele Diskussionen, Meinungen und Nachrichten – aktuell wird uns Vieles zu viel und zu laut. Wie gehen Sie damit um, wenn Sie die Ohren voll haben?

Fredrik Vahle: Da habe ich einige Hör-Rituale. Ich gehe zum Beispiel morgens für mehrere Stunden in den Wald und höre einfach nur zu. Ich höre den Vögeln zu, ich höre den Luftgeräuschen zu, ich höre auch den Leuten zu, denen ich begegne. Da entstehen öfter Gespräche und es beginnen wieder andere Formen des Zuhörens. Aber es ist erstmal ein mehr oder weniger großes Zuhören, dem ich mich aussetze.Tagsüber höre ich dann auch mal zu, was die Zeitungen sagen, aber ich höre zum Beispiel ganz wenig Nachrichten und habe auch keinen Fernseher. Ich suche mir das, was ich höre, schon sehr genau aus.

Marie Ortsiefer: Hat sich die Aufmerksamkeit der Kinder und Ihre Fähigkeit zuzuhören verändert, seit Sie vor 45 Jahren als Kinderliedermacher angefangen haben?

Fredrik Vahle: Das ist eine Frage, die mir oft gestellt wird, aber während ich singe, überprüfe ich das Verhalten der Kinder nicht. Ich versuche immer wieder, die Kinder zu erreichen und ich glaube, das gelingt mir ganz gut. Und damit bin ich auch zufrieden, obwohl ich natürlich weiß, dass sich die mediale Umwelt der Kinder sehr stark verändert hat und dass dadurch auch bestimmte Hindernisse für ihre eigene Aufmerksamkeit größer geworden sind. Die Kinder denken, sie hätten weniger Zeit, um auch mal Langeweile zu haben, um mal nichts zu tun, um einfach nur mal zu horchen und zu lauschen was sonst noch so los ist, und nicht immer auf das zu horchen und lauschen zu müssen, was ihnen vorgegeben ist.

Marie Ortsiefer: Auf Ihrer jüngsten CD hören wir altbekannte Gedichte und Sprechverse als Rap gesprochen oder von neuen Swing-Melodien begleitet. Wie entstand “Lilo Lausch liebt leise Lieder“?

Fredrik Vahle: Was mir sehr geholfen hat, war meine biografische Arbeit an meinem Buch “Schräge Lieder schöne Töne”. Gerade für die zweite “Lilo Lausch”-CD habe ich meine eigene Kindheit als großen Impulsgeber entdeckt. Es waren bestimmte musikalische Erlebnisse, die ich als Kind hatte und die sich dann plötzlich in einer ungeahnten Kreativität in Hinsicht auf diese Lieder äußerten. Deswegen bin ich auch ganz froh, dass das jetzt eine runde Sache geworden ist. Daran war mein inneres Kind in ganz starkem Maße musikalisch beteiligt. Ich denke mir, das hört man vielleicht der Lebendigkeit der Lieder an. 

Marie Ortsiefer: Welches musikalische Erlebnis hat Sie besonders inspiriert?

Fredrik Vahle: Das sind zum Teil meine Horch- und Hör-Erinnerungen, die mit uralten Kinderversen oder mit alten Gedichten zusammenkommen. “Heini Hupfer” ist zum Beispiel ursprünglich ein Gedicht, das es schon seit 20 Jahren gibt, und dazu fiel mir die Swing-Melodie mit Fingerschnippsen ein. Das sind zum Teil Sachen, die sehr schnell entstanden sind, da habe ich nicht lange dran rumgebastelt. Manchmal lässt sich auch aus ganz einfachen semantischen Einsichten plötzlich ein Lied machen wie das „Hahnenschreilied“. Mir ist einfach aufgefallen, dass der Hahnenschrei in unterschiedlichen Sprachen ganz anders ausgedrückt wird und aus dieser semantischen Tatsache habe ich ein Lied gemacht. Darin kommt natürlich der einzelne Charakter der Sprache besser zum Ausdruck, als wenn ich das jetzt linguistisch, semantisch, objektiv darstellen würde. Das „Kokiriko“ oder „Kirikiri“ lässt sich einfach besser singen als definieren und erklären.

Marie Ortsiefer: Zuerst erschien “Lilo Lausch läuft leise“, jetzt folgt “Lilo Lausch liebt leise Lieder“. Weshalb ist es Ihnen wichtig, das leise Element hervorzuheben?

Fredrik Vahle: Das ist schon fast ein bisschen doppelt gemoppelt, aber doppelt heißt in diesem Fall, dass es eine besonders wichtige Sache ist. Die lauten Töne, die lauten Parolen und das, was ganz dick in der Zeitung steht und was die Politiker ganz dick sagen und was auf den Demonstrationen ganz dick geschrieben wird, das springt uns immer entgegen. Ich glaube, es ist sehr wichtig, dass wir immer wieder auch auf die leisen Töne hören. Das können auch leisere Töne von Trauer, von Protest, von eigenen Lebensschwierigkeiten sein, aber auch Töne von Zufriedenheit oder von besonderen Erlebnissen, die wir gerade in dieser Zeit haben können. Da gibt es wirklich eine Menge zu erzählen. Ich glaube, die Musik als verbindendes Medium kann in dieser Weise neu entdeckt werden, indem gerade nicht das Laute, das Geschrei der Musik wichtig ist, sondern die leisen Töne. Und dass etwas auch mal dissonant sein und geschrien werden kann, ist auch ganz wichtig, damit sich niemand von der Musik oder von Parolen oder Ähnlichem einlullen lässt, sondern auch immer wieder dazu geführt wird, aufzuwachen. Musik kann Harmonie stiften, sie kann die Leute aber auch zum Aufwachen bringen!

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Fredrik Vahle, geboren 1942, ist Autor, Dozent, apl. Prof. für Sprache und Bewegung an der Uni Gießen und seit über vierzig Jahren einer der erfolgreichsten Kinderliedermacher im deutschsprachigen Raum. Der »Vater des neuen Kinderlieds« begeistert Kinder und Erwachsene gleichermaßen und wurde für seine Musik u.a. mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Lieder wie Anne Kaffeekanne, Die Rübe und Der Cowboy Jim aus Texas werden in jedem Kinderzimmer und Kindergarten gesungen.

Vahle begleitet die Stiftung Zuhören mit ihrem bundesweiten Bildungsprogramm „Lilo Lausch“ seit Jahren. In seiner jüngsten CD „Lilo Lausch liebt leise Lieder“ widmet er sich dem Zuhören und Lauschen und zeigt die Wunder von Tönen, Sprachen und kulturellen Einflüssen im Alltag. Sie ist am 27. Mai 2020 im Argon Verlag erschienen und im Handel erhältlich.

 

Foto: Paul Alexander Probst, Evolair

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